Was heißt hier behindert?

Der BVS ist ein Verein für sportliches Miteinander

Weiden. Montagmorgen, 9.30 Uhr: Ein Trupp quietschfideler Senioren schwärmt am Edeka-Parkplatz in der Bürgermeister-Probst-Straße aus. Unter ihnen Vizevorsitzende Martina Weiß und Christopher Birner, Sportwart des Behinderten- und Vitalsportvereins (BVS). Die fitten Frauen und Männer zwischen 70 und 91 sind startklar für ihre Nordic-Walking-Runde.

Von Jürgen Herda

BVS-Sportwart Christopher Birner (Mitte) und Übungsleiterin Christa Grundler (rechts daneben) inmitten der fitten Nordic-Walking-Senioren. Foto: Jürgen Herda

Wir alle jenseits der 50 wissen nur zu gut: Wer jetzt noch keine Behinderung hat, ist ein asketischer Heiliger oder ein Glückspilz. Martina Weiß, zweite Vorsitzende des Behinderten und Vitalsportvereins (BVS), kann ein Lied davon singen. „Ich musste nochmal unters Messer wegen meiner Arthrose.“ Ihr linker Fuß steckt in einer Orthese. Bei jedem neuen, mitfühlenden „Hallo“ muss sie aufs Neue erklären: „Ich kann heute leider noch nicht mitlaufen.“

Da kommt Maria Bauriedl, mit ihren zarten 91 Jahren die Gruppenälteste, angetrabt: „Kommst du gar nicht mehr af d’Feiß?“, fragt sie bedauernd und auch ein wenig ungläubig, dass Martina als junge Hüpferin in den Sechzigern gehbehindert sein soll. Wie bleibt man bis ins hohe Alter so flink? „Oh mei“, winkt Maria ab, „viel arbeiten, das war mein Hobby!“ Was sie denn so alles geschafft hat? „Alles hat mir gefallen“, schwärmt die zeitlose Dame, „am Bau habe ich Fliesen gelegt, vier Kinder aufgezogen, nebenbei bedient, bis mein Mann gestorben ist – und dann noch einige Wirtshäuser gehabt wie den Lindenhof in Braunetsrieth vom Bruder.“

Die gehandicapte Vizevorsitzende Martina Weiß (von rechts), Frauenbetreuer Hubert Kuchenreuther und die zeitlose Maria Bauriedl (91). Foto: Jürgen Herda

„Wir wollen ja 100 werden“

Inzwischen ist auch Margit Kuchenreuther, die zweite Übungsleiterin, zur Stelle: „Ich bin von Anfang an mit dabei“, sagt sie. Ihr lebenslustiger Gatte Hubert stürmt auf Doris zu, die kürzlich ihren 70. Geburtstag feierte. „Lass dich drücken!“ Das Ehepaar Kuchenreuther kam durch die sehbehinderte Tochter zum Verein. „Und jetzt bin ich so was wie der Frauenbetreuer“, sagt Hubert augenzwinkernd. Hilde Zirweck, die im August 74 wurde, hat noch eine andere Motivation: „Man soll was für die Gesundheit tun“, sagt sie, „wir wollen ja 100 werden.“

Dass der Junior der Gruppe, BVS-Sportwart Christopher Birner, mit seinen 37 Jahren schon länger Vereinsmitglied ist, wie die betagten Nordic-Walker, liegt an seiner Mutter Sabine Birner, Vorsitzende des Vereins: „Ich wollte mit 6 Jahren Schwimmen lernen“, erzählt der Arzt am Klinikum, „sie hat sich informiert und weil sie wollte, dass ich Kontakt zu Kindern mit Handicap bekomme, hat sie mich beim BVS mit seinen 16 Sparten inklusive Reha-Sport angemeldet.“ Bereut hat er das nie, im Gegenteil: „Es wurde Teil meines Lebens“, sagt der Weidener SPD-Direktkandidat für den Bezirkstag.
Ehrenvorsitzender ist Weidens Behindertenbeauftragter

Birner lernt, was es bedeutet, den Alltag mit Behinderung zu meistern. „Meine Mutter hat eine Rollstuhlgruppe gegründet, und ich habe mich auch reingesetzt, beim Fahrtraining und dem Geschicklichkeitstraining mitgemacht.“ Er kann deshalb noch heute mit Rollstuhl Rolltreppenfahren. Aus dem Verein kommen seit Jahren Impulse für den Weidener Stadtrat, etwa von Alexander Grundler, dem Behindertenbeauftragten der Stadt: „Alexander ist inzwischen unser Ehrenvorsitzender“, freut sich Birner, „und kümmert sich darum, dass Weiden barrierefreier wird.“

Und da ist noch einiges zu tun, etwa bei Arztpraxen ohne Aufzüge. Immerhin: „In der Altstadt bekommen wir jetzt Befestigungsstreifen, weil sich Gehbehinderte und Rollstuhlfahrer auf dem Kopfsteinpflaster so schwertun – das haben wir im Stadtrat durchbekommen.“ Eine große Familie ist dieser BVS, im wahrsten Sinn des Wortes.

Nur nicht den Humor verlieren: BVS-Vize Martina Weiß hat trotz ihrer misslichen Lage gut und viel zu lachen. Foto: Jürgen Herda

Alpenüberquerung mit 73

Christa Grundler, Alexanders Mutter, ist seit 21 Jahren, seit Gründung der Nordic-Walking-Gruppe, eine der Übungsleiterinnen. Mit ihren 73 Jahren hat sie kürzlich eine „Alpenüberquerung“ gemeistert, prangt stolz auf ihrem T-Shirt. „Das war nicht so wild“, sagt sie bescheiden, „wir sind so zwischen 13 und 17 Kilometer am Tag marschiert von Garmisch auf Sterzing – aber die Höhenmeter hatten’s halt in sich.“ Ob sie als Teamchefin eine strenge Antreiberin ist? „Bei uns gehen sie freiwillig“, lacht sie, während sich der Parkplatz mit weiteren tatendurstigen grauen Panthern in Sportklamotten und deren munteren Geplapper füllt.

Rund 500 Mitglieder hat der – 1949 durch Zusammenschluss von Kriegsversehrten – gegründete Verein. „Wir haben auch Kinder zwischen 5 und 10 Jahren“, sagt Birner, „aber die meisten sind schon eher 60 plus.“ Wie viele Vereine hat man auch beim BVS Nachwuchssorgen. „Die Fitnessclubs machen uns Konkurrenz, weil sich gerade die 14- bis 35-Jährigen immer weniger binden wollen.“ Für die alternde Gesellschaft aber ist der BVS ein Segen, weil der Sport hier nicht an erster Stelle steht.

Deutscher Boccia-Meister in eigenen Reihen

„Es geht vor allem um das Miteinander“, erklärt Martina Weiß, „die Leute sind nicht allein, wir haben viele Witwer und Witwen bei unseren Seniorennachmittagen.“ Zusammen fährt man auf Nordic-Walking-Treffen wie kürzlich nach Auerbach und jede Abteilung hält ihr eigenes Grillfest ab. „Hier werden Freundschaften geknüpft“, betont auch Birner. „Als ich Corona hatte, haben alle angerufen und gefragt, ,kann ich für dich einkaufen?‘“ Ein Verein für Körper, Geist und Seele sei der BVS. Und nach jeder flotten Runde am Kanal gehe man hier im Café einen Cappuccino schlürfen.

Das heißt freilich nicht, dass man beim Behinderten- und Vitalsportverein den sportlichen Aspekt gar nicht ernst nehmen würde. „Wir haben natürlich auch einen Liga-Betrieb“, sagt Christopher Birner. „Die Rollis fahren auch nach Österreich.“ Mit Christoph Voit hat der Verein sogar einen veritablen Deutschen Meister im Boccia in seinen Reihen. Und vor Corona, 2019, hat man in Weiden eine Deutsche Doppelmeisterschaft in Faustball und Fußball-Tennis ausgetragen.

Und den rechten Fuß kreisen: Warm machen für den flotten Marsch am Kanal. Foto: Jürgen Herda

Viel Geld für einen kleinen Verein

Der Aufwand, um so eine Meisterschaft aufzuziehen, ist für einen Verein mit lauter Ehrenamtlichen eine finanzielle und organisatorische Gratwanderung, weiß Schatzmeister Alfred Weiß: „Um mit unseren 22 Keglern zu einer Meisterschaft zu fahren, brauche ich mit allem Drum und Dran – Bus, Übernachtung und Verpflegung – rund 4000 Euro.“ Dafür vertritt der Verein aber auch Weiden bundesweit. „Früher gab es für die Austragung einer Meisterschaft einen Etat des Verbands, heute muss sie sich selber tragen.“

Der Trend gehe auch im Behindertensport zu lukrativen Events wie den Paralympics. „Dabei müsste doch gerade angesichts der alternden Gesellschaft der Breitensport stärker unterstützt werden.“ Immerhin wisse Weiden, was man am BVS habe, und das nicht nur hinsichtlich des Präventionsgedankens. „Wir haben die Unterstützung der Stadt“, sagt Martina Weiß. Und das ist auch gut so, stellt Birner fest. „Nur mit den Mitgliederbeiträgen allein könnten wir unser Angebot nicht aufrechterhalten.“

Schon laufen sie: Ludi incipiant, wie die alten Römer sagten, die Spiele mögen beginnen. Foto: Jürgen Herda